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Der unbemerkte Arbeitskräftemangel

Japan ist eine uralte Nation. Das gilt nicht nur für das Land selbst, das seit mehr als zweitausend Jahren unabhängig ist. Sondern auch und vor allem für die hiesigen Menschen. Die Japanerinnen und Japaner stellen die älteste Bevölkerung der Welt. Sie sind mit fast 49 Jahren durchschnittlich noch ein Jahr älter als die zweitplatzierten Deutschen. Darüber hinaus haben diese Menschen statistisch auch noch ein paar mehr Jahre vor sich als in Deutschland. Denn die japanische Lebenserwartung ist mit 85 Jahren ebenfalls rekordverdächtig.

Was jede und jeden Einzelnen freut, ist wirtschaftlich eine echte Herausforderung. Die Geburtenrate ist äußerst niedrig, unabhängig davon ob man sie auf die Gesamtbevölkerung oder auf die Frauen im gebärfähigen Alter bezieht. Gleichzeitig ist Japan eher migrationsfeindlich – die entsprechende Rate liegt gerade einmal bei einem Drittel des deutschen Werts.

Das alles führt dazu, dass Japan die Arbeitskräfte ausgehen. Also müssen Betriebe und Einrichtungen so viele Tätigkeiten wie möglich automatisieren oder auf den Kunden übertragen. Wie sieht das im Alltag aus?

Maschinen kompensieren die Bevölkerungspyramide

Sushi, ein Aushängeschild des japanischen Küchenhandwerks, wird mittlerweile überwiegend maschinell zubereitet. Das gilt auch für viele weitere Gerichte. Dazu passt, dass die Japaner begeisterte Maschinenbauer und -nutzer sind, s. Waffelautomat rechts bzw. unten.

In vielen Restaurants bestellt man beim Betreten an einem Automat und setzt sich einfach an einen freien Platz am Tresen. Der einzige Kontakt mit Personal ist die Aushändigung des ausgedruckten Bons und die Entgegennahme des Essens (gefühlt nur ca. 30 s später). In anderen Restaurants mit Tischen kommt der Kellner nur, wenn man eine Klingel betätigt. Auch die Getränke nimmt man sich dort eigenständig an der “Drink Bar”. Es gibt sogar Restaurants, in denen man über eine Art Lotterie zur Geschirrrückgabe motiviert wird.

Weil in Japan das Parken am Straßenrand verboten ist, sind bewirtschaftete Parkplätze sehr verbreitet. Oft werden diese jedoch in Baulücken angelegt und haben nur eine Handvoll Stellplätze. Dort gibt es automatische Wegfahrsperren, die den Wagen erst nach dem Bezahlen wieder freigeben. Das benötigt keine Politessen und garantiert trotzdem eine 100-prozentige Bezahlquote.

Auch die spätestens seit der Pandemie beliebten Lieferdienste für Lebensmittel und Speisen versuchen, ihren Personaleinsatz zu optimieren. In unserem Wohnblock startet bald ein Versuchsbetrieb mit Ausliefer-Robotern. Ich bin gespannt, wann ich dem Kameraden das erste Mal im Aufzug begegne.

Hat man es in Japan bald nirgendwo mehr mit Menschen zu tun?

Die Frage drängt sich einem zwangsläufig auf, wenn man die vielen Beispiele der Automatisierung aufzählt. Interessanterweise ist das Gegenteil der Fall. Mir fallen auf Anhieb viele Einrichtungen ein, in denen die Personalzahlen offenbar überhaupt keine Rolle spielen:

Schon bei der Ankunft am Flughafen Haneda standen unzählige Menschen als Wegweiser herum. Auch dort, wo es überhaupt nichts zu weisen gab, etwa weil ein Flur ohne Abzweige einfach nur geradeaus führt.

In den Ämtern und Behörden gibt es in der Regel mindestens einen “Grüß-August”. Vor der Ausländerbehörde stehen beispielsweise zwei Herren. Einer kontrolliert, dass der Bus die Wendeschleife richtig befährt. Und der andere grüßt die eintreffenden Kunden. Nickt man freundlich zurück, salutiert er. Im Eingangsbereich des Gebäudes sitzen zwei weitere Personen an den Desinfektionsspendern. Auch sie nicken freundlich, wenn man diese benutzt. Und sonst eben nicht. Beim Zoo-Besuch kontrollieren mehrere Damen die Tickets der wenigen Besucher. Beim Verlassen des Geländes stehen sie auch eine Stunde nach Einlassschluss noch ebenda und grüßen die abziehenden Gäste.

In der kleinen Postfiliale in “unserem” Einkaufszentrum arbeiten auch erstaunlich viele Menschen. Zwei davon unterstützen die Maschine zur Ausgabe der Wartemarken. Um es einzuordnen: Ich habe dort selten mehr als zwei Kunden anstehen sehen.

Manche Dienstleistungen wirken angesichts des Arbeitskräftemangels absurd

Ist diese merkwürdige Beschäftigungspolitik eine Marotte des öffentlichen Sektors? Auf keinen Fall. An Wochentagen ist der nahe Elektronikmarkt tagsüber quasi menschenleer. In den Gängen tummeln sich jedoch die Kundenberater. Dazu sind drei Kassen offen – der komplette Gegenentwurf zum deutschen Baumarkt.

Bei Spritpreisen von umgerechnet 1,25 Euro pro Liter würden deutsche Kunden während des Tankvorgangs wahrscheinlich freiwillig die Zapfsäule polieren oder Regale auffüllen. In Japan hingegen gibt es an vielen Tankstellen einen Tankwart, der einem auch gerne rundum die Scheiben reinigt.

Und am Bürostandort eines nicht näher benannten Unternehmens gibt es eine Person, die ausschließlich den Müll überprüft. Falsch einsortierter Abfall wird in einer Excel-Liste dokumentiert, welche regelmäßig verschickt wird.

Dass in den Zügen vorne noch ein Zugführer sitzt, überrascht nach dieser Auflistung vermutlich niemanden. Notwendig wäre es hingegen schon lange nicht mehr – im Gegenteil: Die sekunden- und zentimetergenauen Einhaltung der Fahrpläne ist mit allzu vielen menschlichen Eingriffe gar nicht mehr möglich. Immerhin startet in zwei Monaten der Testbetrieb für automatische Züge auf der Yamanote-Linie.

Man möge diesen Befund nicht falsch verstehen: Ich tippe jedes Mal begeistert auf den Bestellmaschinen im Restaurant herum. Und freue mich aber über eine menschliche Begrüßung beim Betreten fast jeden Geschäfts. Ich habe nur lediglich den Eindruck

, dass ich die Prioritäten der Japaner im Kampf gegen den Arbeitskräftemangel und die Tücken ihrer Bevölkerungspyramide noch nicht einmal im Ansatz verstehe. Zwar sind einige der beschriebenen Tätigkeiten mit Japanerinnen und Japanern besetzt, die sich damit ihre Rente aufbessern – aber eben längst nicht alle.

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