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Tief im Westen

Erstaunlich schnell ist der heiße Spätsommer einem milden Herbstwetter gewichen. Mit Regenjacke im Gepäck machen wir uns am Freitag auf den Weg zum Shinkansen. In dreieinhalb Stunden bringt uns der „Nozomi“ in das 800 Kilometer entfernte Hiroshima – Blick auf den Fuji inklusive.

Bevor wir uns der Stadt selbst widmen, geht es aber erst einmal auf die Insel. Eine Fähre, die noch zum Nahverkehr zählt, bringt uns in einer Viertelstunde nach Miyajima. Im Seaside, einem typisch japanischen Hotel empfängt man uns herzlich und bittet auch kurz darauf zum Abendessen: Mehrere Sorten rohen Fischs, ein feines Süppchen, Custard Pudding, eingelegtes Gemüse, Tempura. Als japanisches Gästehaus fährt das Seaside alles auf, das dazugehört. Das Hotel macht seinem Namen übrigens alle Ehre: Die Lobby und die Zimmer blicken auf das innerjapanische Seto-Meer. Und natürlich gibt es auch ein Onsen, ein großes Thermalbad, das neben der Hygiene auch die ordentliche Bettschwere gewährleistet.

Am nächsten Morgen kümmern wir uns um die beiden Haupt-Sehenswürdigkeiten der Insel. Nahe des Fährterminals stehen Teile des Itsukushima-Schreins und das berühmte, rote Tōri je nach Gezeiten mehr oder weniger im Wasser. Es ist vermutlich das berühmteste Fotomotiv Japans ohne den Fuji. Auf Miyajima gibt es außerdem zahme Hirsche. Man findet sie überall auf der Insel, aber natürlich bevorzugt in der Nähe der Touristenströme. Anders als in Nara ist das Füttern untersagt. Die Tiere akzeptieren diese Regel jedoch nur widerwillig und knabbern aus Protest an allem, das sie erreichen, und sei es nur Papier.

Die kleine Insel hat auch ein paar schöne Berge zu bieten. Je nachdem, ob man mehr Angst vor den Vipern im Wald oder der antiquierten Technik hat, erreicht man diese zu Fuß oder mit den klapprigen Seilbahnen. Von oben reicht der Blick auf zahlreiche benachbarte Inseln. Nach einem langen Tag auf der Insel stärken wir uns noch mit Okonomiyaki – natürlich Hiroshima Style – und nehmen dann eine Fähre zurück auf die Hauptinsel Honshu.

Die Stadt Hiroshima bedarf natürlich keiner Vorstellung. Wüssten wir nicht um die Geschichte, würden wir sie jedoch jenseits des Friedensparks aber wohl auch nicht wahrnehmen: Denn Hiroshima ist auf den ersten Blick eine japanische Großstadt wie viele andere. Einzig die breit angelegten Hauptverkehrsachsen inkl. Straßenbahn zeugen – übrigens genau wie in Nagasaki – vom vollständigen Wiederaufbau nach dem Atombombenabwurf.

Die weltberühmte Ruine des “Atomic Bomb Dome” habe ich nach dem Besuch des Friedensmuseums noch einmal mit anderen Augen gesehen. Denn erst danach hatte ich so richtig begriffen, dass dieses Gerippe im August 1945 nicht das am meisten beschädigte Gebäude war – sondern so ziemlich das einzige, von dem überhaupt noch etwas übrig blieb. In diesen Zeiten, in denen manche wieder leichtfertig über den Einsatz von Atomwaffen reden, war der große Andrang vor und in dem Friedensmuseum ein beruhigender Anblick.

Am Montag, dem Tag des Sports, gelingt es Karin durch (aus meiner Sicht) virtuose Auslegung der JR Beförderungsbedingungen, noch ein weiteres Ausflugsziel in die Rückreise einzuflechten: Von Mihara fahren wir mit der einspurigen Kure-Bahnlinie und einer Fähre nach Okunoshima. Dort leben hunderte wilde, jedoch zahme Kaninchen – mit einer schaurigen Vergangenheit.

Vor ca. 100 Jahren begann Japan auf Okunoshima mit der Produktion von Giftgas. Aus Geheimhaltungsgründen wurde die Insel von allen Landkarten verbannt. Weil die fachkundigen Experten und einschlägigen Zulieferbetriebe mutmaßlich von ausländischen Geheimdiensten beschattet wurden und die Insel daher nie persönlich aufsuchten bzw. belieferten, mussten dort Laien und Zwangsarbeiter unter katastrophalen Bedingungen mit den chemischen Kampfstoffen hantieren.

Eines der wenigen verbliebenen Teile der Anlage

Kurz vor der japanischen Kapitulation wurden die Anlagen und Dokumente größtenteils zerstört und die Versuchskaninchen getötet. Die heutigen Inselbewohner wurden erst knapp 20 Jahre später auf der Insel ausgesetzt, um den Tourismus anzukurbeln.

Die Geheimhaltung und Verschleierung der Armee verfehlt ihre Wirkung bis heute nicht. Den meisten Japanerinnen und Japanern ist die Insel unbekannt – zumindest die militärische Vergangenheit und vor allem die Giftgaseinsätze im zweiten japanisch-chinesischen Krieg.

Neben den schweigsamen Ruinen informiert heute nur ein kleines Museum, für das sich Betroffene und Anwohner stark gemacht haben, über die Geschichte der Insel. Auf dem Festland wird sie nur fröhlich als “Rabbit Island” beworben.

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